Windböen zerzausen das spärliche Gras auf den Dünen, Möwen kreisen über den Buhnen. Wo im Sommer Bikini und Badehose die Mode bestimmten, trägt man nun den gelben Friesennerz. Der Blick schweift über die weite Fläche, wo vor kurzem noch das Meer wogte und jetzt Schlick glitzert. Wattenmeer im Herbst bedeutet Gummistiefel und Südwester. Doch die Gesichter der Strandgänger strahlen. Worin liegt eigentlich der Reiz, an ein Meer zu fahren, das die Hälfte der Zeit gar nicht da ist?
Starten wir in Brunsbüttel, wo dicke Pötte die Schleuse des Nord-Ostsee-Kanals entern und die Elbe in die Nordsee mündet. Nur knapp dahinter beginnt das Watt, das uns bis Dänemark begleiten wird. Nirgends auf der Welt sind die durch Sonne und Mond bedingten Gezeiten ausgeprägter als an der Nordsee; zweimal am Tag zieht sich das Wasser über Meilen zurück, um plötzlich wieder da zu sein. Das Wattenmeer ist Lebensraum – geschützt von der Unesco. Das Land ist flach und mühsam dem Meere abgerungen. Bereits zehn Kilometer vor der Küste erheben sich Deiche, teils mit Sperrwerken ausgestattet, damit Hochwasser nicht in tief gelegene Areale dringen kann.
Was gibt es zu erleben?
Die Urlaubsziele liegen direkt an der Küste: In Friedrichskoog-Spitze sind die Strandkörbe gen Sonnenuntergang ausgerichtet, Lenkdrachen flattern am Himmel. In der Robbenaufzuchtstation kann man die scheuen Meeressäuger beobachten. Und im Windschatten der Deiche lässt sich prima Rad fahren. Die wenigen Bäume neigen sich im steten Wind, Sanddorn sorgt für orange Farbtupfer. Auf den Feldern reifen Kohl und Kürbis; zur Erntezeit locken Hofverkäufe mit Gemüse aus eigenem Anbau.

Büsum reizt mit hübschem Hafen und frischen Krabben, am Stadtrand steht das Deichmuseum. Technikfans sollten das Eidersperrwerk bei Wesselburenerkoog nicht verpassen. Man kann sich in den Trubel von Sankt Peter-Ording stürzen oder aber dem Charme des hübschen Leuchtturms auf Westerheverstrand erliegen. Für tiefe Einblicke in die Geschichte sorgt das Nordfriesland-Museum in Husum. Die laut Theodor Storm "graue Stadt am Meer" präsentiert sich heutzutage ganz bunt. Die nahe Arlau-Schleuse im Hinterland lohnt einen Abstecher, nicht verpassen sollte man ebenso die Strandführungen.
Geschichtsträchtige Entstehung
Vor 10.000 Jahren konnte man noch zu Fuß bis England wandern, dann ließ ein Tsunami das Doggerland versinken. Legendär sind die beiden "Groten Mandränken", die tausende Opfer forderten. Die Insel Rungholt, das einstige Atlantis des Nordens, versank in den Fluten. Respekt vor der See schließt die Beachtung der Sperrzonen ein – starker Wind kann auch heute ohne Weiteres zur Sturmflut führen.
Die Wattenmeer-Region in ihrer heutigen Form ist durch die Sturmfluten des frühen Mittelalters entstanden. Dass sich die Küste in stetem Wandel befindet, zeigt zum Beispiel Nordstrand, das einst eine Insel war, doch seit gut 110 Jahren mit dem Kontinent verbunden ist. "Lever duad üs slav – lieber tot als Sklave", der Leitspruch der Friesen, ist auch Ausdruck des Stolzes und der Liebe zu diesem Landstrich. Als Begrüßung am Morgen, mittags und auch spät am Abend reicht ein "Moin". Mehr wäre Gesabbel.
Genuss und Kulinarik an der Nordsee
Das Fischbrötchen, gerne mit Hering, Lachs oder Krabben belegt, ist der lokale Schnellimbiss auf die Faust. Wer es süß mag, greift zu einem der opulenten Tortenstücke. Sternengucker finden ihren Platz auf der Insel Pellworm – angeblich ist nirgends in Deutschland der Nachthimmel dunkler. Zwischenstopp in Dagebüll, wo die Fähren zu den Inseln Amrum und Föhr ablegen. Sylt dagegen erreicht man per Eisenbahn – von Niebüll aus per Autozug.

Kurz vor der dänischen Grenze widmet sich das Emil-Nolde-Haus in Seebüll der Kunst und dem Leben des Malers. Der Rickelsbüller Koog schließlich markiert den nordwestlichsten Festlandszipfel Deutschlands. Ornithologen stellen hier oft ihre Kameras auf. Schafe grasen beidseits der Grenze zu Dänemark, die nur durch einen simplen Zaun markiert wird.
Die Gesichter rot vom Wind, das Schlammstapfen wird einen Muskelkater nach sich ziehen. Als Trost gibt es einen heißen Grog oder Tee mit Kandis. Oder den auf Nordstrand erfundenen Pharisäer, der den mit braunem Rum veredelten Kaffee unter einem Sahnehäubchen verbirgt.
Tipp: Wattenmeer-Forum
In den meisten Orten entlang der Küste bieten Einrichtungen Informationen zum Nationalpark an. Am Multimar-Forum in Tönning aber sollte man auf keinen Fall vorbeifahren. Auf über 3000 Quadratmetern werden lebendige Einblicke in die Lebenswelt der Nordsee und des Wattenmeers geboten; besondere Attraktionen sind die Walausstellung sowie die durch Taucher durchgeführten Fischfütterungen. Die Anlage ist familienfreundlich, barrierefrei und das ganze Jahr über täglich geöffnet.

Campingplätze in der Region
Fazit
Doch warum kommt man nun hierher? Wegen der Luft, die durch den hohen Salzgehalt Atemwegs- und Hauterkrankungen lindert und noch 1.000 weitere Gebrechen heilt. Wegen der Weite, die es so kaum woanders in Deutschland gibt. Und warum campen? Weil man dabei irgendwie noch draußener ist als draußen.