Ein Atemzug dieser unvergleichlichen Symbiose aus Geschmack, Geruch und Gefühl, und ich bin in Urlaubsstimmung. Seeluft! Salz! Wind! Die Arme befreit in den Himmel gestreckt, strahle ich mit der Sonne und dem Rest unserer Urlaubsgesellschaft um die Wette. Zwei weitere Atemzüge und eine frische Meeresbrise später sind wir restlos davon überzeugt, dass sich die 1000 Kilometer Wegstrecke von der Mitte Deutschlands bis an die Atlantikküste vollends gelohnt haben. Nach zehn erstaunlich entspannten Stunden Fahrtzeit quer durch Frankreich stehen wir nun also in Royan am Fähranleger und saugen gierig die salzige Meeresluft ein.
Auf der Vélodyssée, Frankreichs längster und vielleicht auch schönster Radroute, wollen wir in zwei Wochen so weit radeln, wie wir kommen. Nur die grobe Route, Richtung und der Startpunkt sind geplant. Immer am Ozean entlang, den Wellen gleich uns rollen lassen, begleitet von den schier endlosen Sandstränden und Dünen
Sonne, Strand & Salzluft
Die Fähre bringt uns über die größte Flussmündung Europas, die Gironde, nach Le Verdon-sur-Mer. Hier oben, an der Spitze der Halbinsel Médoc, am Pointe de Grave, beginnt unser Radabenteuer: zwei Wochen, zwei Familien, zwei Zelte, zwei Anhänger und acht Räder. Mit der Fährüberquerung von Royan nach Le Verdon sparen wir uns den großen Bogen über Bordeaux. Auch wenn die prachtvolle Unesco-Welterbestadt reizvoll erscheint, treibt es uns so schnell wie möglich ans Meer. Immerhin haben unsere vier Kinder die gleiche Stimmberechtigung bei der Urlaubsplanung gehabt wie wir vier Erwachsenen. Also: 4 x Meer (Kinder) + 4 x Fahrradtour (Eltern) geteilt durch 8 x Sommer, Sonne, Sonnenschein (alle) = Frankreichs Atlantikküste.

So schnell und einfach haben wir selten die passende Lösung gefunden. Zumal es bei zwei Familien mit vier Halbstarken unterschiedlichen Alters immer irgendwelche Unbekannte gibt. Aber diesmal schien uns das Ergebnis der Urlaubswahl mehr als perfekt: Aquitanien, in Südwestfrankreich, verspricht mit einem Netz aus vielen tausend Kilometern gut ausgebauten Radwegen und einer unendlichen Vielfalt an Landschaften ein wahres Eldorado für Radfreunde zu sein. Anfangs überlegten wir noch, welche der interessanten Routen wir fahren wollen. Die unzähligen Weingüter, verwunschenen Gärten und vielen historischen Burgen und Schlösser im Hinterland lockten uns Eltern schon. Schnell war allerdings klar, dass es wichtiger war, die Tretmotivation der jüngsten Teammitglieder aufrechtzuerhalten, als historische Sehenswürdigkeiten zu bestaunen. Und was zieht mehr, als täglich ins kühle Nass des Atlantiks eintauchen zu dürfen.
Unsere Autos lassen wir während der zwei Wochen auf dem nur zwei Kilometer von Le Verdon entfernten öffentlichen Parkplatz der Unterkunft La Maison de Grave stehen, einem 1840 erbauten Ingenieurshaus. Heute ist diese wunderbar rustikal restaurierte Herberge ein Paradies für Pilger, Radfahrer oder Reiter, die in Ruhe und Gelassenheit die Region erkunden wollen. Allein hier, rund um dieses Kleinod könnten wir Wochen verweilen. Aber uns treibt die Neugier und Abenteuerlust an, all die vielen Orte, Seebäder und Strände zu entdecken, die sich entlang der Vélodyssée einer Perlenkette gleich aneinanderreihen. Voller Elan und mit gepackten Rädern schlängeln wir uns also auf bestem Sahneasphalt und verkehrsfreier Radbahn durchs Land hinter den Dünen. Ab und an erhaschen wir einen Blick auf den imposanten Wächter dieser einzigartigen Küste. Der von Wogen umspülte Leuchtturm von Cordouan streckt seine königlich weiße Silhouette in den blitzeblauen Himmel und mahnt uns erhaben, dass das Meer kein solch zahmer Kinderspielplatz ist, wie es uns von der Ferne gerade erscheint.

Aus der Nähe betrachtet, gibt es keinen Zweifel, wer der Stärkere ist. Wild schäumend krachen die meterhohen Wellen tosend übereinander und lassen unsere beiden Nesthäkchen Waschmaschine fahren. Den Rest des Urlaubs trotzen sie dem Ozean mit sandigen Burgen und Festungsbauten. Wir Älteren können nicht widerstehen. Fast schon provokant fordert uns der Atlantik zum Wellentanz. Immer und immer wieder wagen wir den Ritt mit unseren neu erworbenen Bodyboards, lassen uns umherwirbeln, weichspülen, spöttisch ausspucken. Einmal die perfekte Woge gesurft, braucht es nicht mehr, um sich glückselig trunken im warmen Sand zu erholen.
Der Strand und das Meer sind tägliches Highlight, Motivation, Pausenfüller, Trost, Erholung und Spaß. Welch göttliche Kombination aus Schlemmerland, Radwandertraum und Kinderanimation. Letztere gibt es auch auf dem einen oder anderen großen Campingplatz. Für dessen Rutschen-Pool-Paradies würden unsere Kinder sogar freiwillig zehn Kilometer weiterfahren, aber wir Eltern sind uns einig und bevorzugen die echten Self-made-Abenteuer.

Und vor allem diese verlockenden Köstlichkeiten Aquitaniens. Croissant-verliebt sind wir schon seit dem ersten Tag. Aber kaum haben wir auf einem der Marktstände an den vielen frischen, regionalen Leckereien geschnuppert, ist es um uns geschehen. Wie gerufen kommt da ein radfreier Tag in Montalivet mit seinem traditionellen Markt. Im Sommer kann man sich an über 200 Ständen verführen lassen. Die Rollen klar verteilt, kümmern sich die Männer um Essensnachschub und kommen, Radtaschen und Anhänger vollgepackt, sichtlich zufrieden zurück. Pique-nique, eine Kleinigkeit aufpicken, gehört nun auch zu unserem täglichen Ritual: feinste Würste, würziger Käse, regionales Obst und Gemüse, Oliven, Meeresfrüchte, krosses Baguette und dazu ein frischer Médoc-Wein. Herz, was willst du mehr?
Radfahren wie Gott in Frankreich – unser Urlaub tröpfelt dahin wie Fahrradöl. Lässig, entrückt tingeln wir mit Westwind im Rücken in Richtung Arcachon. Zuweilen ist die Streckenführung recht langatmig und schneidet schnurgerade durch die weitläufigen Kiefernwälder. Um der Monotonie Einhalt zu gebieten, rechnen die zwei Mathegenies unter uns die Langeweile einfach weg, Nummer drei hilft Lieder trällern und Klein-Greta bekommt einen ultimativen Bananenpower-Aufkleber. Aber das beste Antriebsmittel ist die Aussicht, einmal auf der größten Wanderdüne Europas stehen zu dürfen.
Am Cap Ferret, der auffällig scharfen Landspitze, die das Bassin d’Arcachon vom Atlantischen Ozean trennt, wird die Szenerie wieder abwechslungsreicher. Wir klettern auf einen 53 Meter hohen Leuchtturm, den Phare du Cap Ferret, und können nach 258 Stufen von oben nicht nur das gesamte Becken erfassen, sondern sehen auch zum ersten Mal die berühmte Pilat-Düne.
Nun liegen nur noch 85 Kilometer Strecke rund um das stille Binnenmeer von Arcachon vor uns. Vorbei an kleinen malerischen Hafenstädtchen, Vogelschutzgebieten und Salzwiesen in Arès und Le Teich, laden die zahlreichen Austernhütten zum Pausieren und Probieren ein. Die Auswahl ist wirklich beeindruckend: Krabben, Garnelen, Muscheln, Austern, Krebse und Hummer werden in einer Laube direkt am Wasser serviert. Begleitet von frischem Weißwein aus Bordeaux, schlürfen wir uns durch den Nachmittag.
Das wahre Ausmaß dieses riesigen Sandbergs, der wie zufällig ausgeschüttet mächtig das Becken von Arcachon bewacht, begreift man erst, wenn man glaubt, fast oben zu sein, und keine Lust mehr hat weiterzulaufen. Dann wirkt jeder Schritt auf der 110 Meter hohen Dune du Pilat, winzig klein und anstrengend, nicht wirklich lohnend, weil man scheinbar nicht vorwärtskommt. Ein Wimpernschlag in geschätzten 60 Millionen Kubikmeter Sand. Der Ausblick zwingt immer wieder zum Verweilen, aber nur kurz, denn die 500 Meter breite und etwa 2,7 Kilometer lange Düne will bezwungen werden.
Wild und ausgelassen purzeln, rennen, springen, fallen wir den weichen Riesenhügel hinab, sprinten wieder hinauf, um sogleich im Weitsprung hinabzustürzen. Die Anstrengung fordert ihren Tribut. Völlig ausgepowert und erschöpft liegen unsere Körper auf diesem warmen Naturwunder.
Weit schweifen die Blicke auf das Naturschutzgebiet Banc d’Arguin mit seiner vorgelagerten Vogelinsel Île aux Oiseaux, über die Gemeinde La Test-de-Buch, bis die Augen sich im dunkelgrünen Waldteppich verlieren. "Von da ganz hinten sind wir gekommen", zeigt unser Großer sichtlich stolz die Küstenlinie hinauf. Feiner Sand rieselt weich durch unsere Hände. Die Seele glatt entspannt wie der silberne Ozean im Abendlicht.
Die Vélodyssée
Lage: Die Vélodyssée ist mit 1200 Kilometern die längste Radroute Frankreichs. Sie beginnt in Roscoff an der bretonischen Küste und endet bei Hendaye an der spanischen Grenze. In Aquitanien schlängelt sie sich auf etwa 370 Kilometern entlang der Atlantikküste durch die Departments Gironde, Landes und Atlantische Pyrenäen.
Unsere Route: Royan – Pointe de Grave – Soulac-sur-Mer – Montalivet-les-Bains – Hourtin-Plage – Maubuisson – Lacanau-Océan – Le Porge-Océan – Carrefour du Tailleur – Arès – Biganos – Le Teich – Dune du Pilat
Reise-Informationen: Das Fremdenverkehrsamt Neu-Aquitanien (www.visit-new-aquitaine.com/activities/cycling) hilft mit Informationsmaterial für ganz Südwestfrankreich weiter. Auf der Webseite www.atlantikkueste-frankreich.de/radfahren erhält man einen Überblick von der Vélodyssée entlang des Atlantiks. Auf www.radreise-wiki.de/ vélodyssée bekommt man detaillierte Informationen über Teilabschnitte und Regionen. Empfehlenswert ist auch die Webseite für Radtourismus in Frankreich: www.francevelotourisme.com (frz., engl.). Sehr hilfreich fanden wir die Radkarten und Pläne, die man in den örtlichen Touristeninformationen erhält. Topographische Karte: IGN 145, Bordeaux Arcachon, 1 : 100 000.
Camping-Tipps
An der Atlantikküste findet man jede Menge Campingplätze unterschiedlichster Größe und Ausstattung. In der Hochsaison ist es von Vorteil zu reservieren. Hier unsere Vorschläge:
Camping Campéole Médoc Plage, Avenue de l’Europe, 33930 Vendays-Montalivet, www.campeole.com/fr/camping/medoc-plage, schöner Platz mit Beachvolleyball, kleinem Pool, in Strandnähe.
Camping de la Côte d’Argent, 33990 Hourtin Plage, www.camping-cote-dargent.com, absolutes Highlight für die Kids, mit Pool und Rutschenparadies.
Camping Le Paradis, 32 Route de Philibert, 33121 Carcans, www.campingleparadis-carcans.com, kleiner, ruhiger Platz mit Hütten und wenigen Stellflächen, liegt ca. 12 km entfernt vom Strand, etwas abseits der Vélodyssée.
Camping Airotel L’Ocean Lacanau, 24 rue du Repos, 33680 Lacanau Océan, www.airotel-ocean.com, großer, trubeliger Platz mit viel Kinderanimation.
Camping Municipal La Grigne, 35 Avenue de l’Océan, 33680 Le Porge-Océan, www.camping-leporge.fr, ruhiger Platz in Waldlage, ca. 10 Minuten zum Strand.
Camping Le Truc Vert, Route du Truc-Vert, 33970 Lege-Cap-Ferret Ocean, www.trucvert.com, idyllisch im Kiefernwald gelegen, auf der Halbinsel Cap Ferret.
Camping Pasteur Vacances, 1 Rue du Pilote, 33740 Arès, www.atlantic-vacances.com, kleiner Platz mitten im Ort, nur Hütten, keine Zeltstellplätze.
La Maison de Grave, Chemin Forestier BP 23, 33123 Le Verdon-sur-Mer, www.la-maison-de-grave.com, wunderbare Pilgerstätte direkt an der Vélodyssée, Doppel- oder Mehrbettzimmer, Restaurant mit lokaler Küche und Produkten aus dem eigenen Garten.