Am Ende des kurzen, intensiven Autolebens bleibt nur die Schrottpresse. Zu stark waren die Belastungen, zu intensiv die zahlreichen Operationen am Blech. Durch armdicke Löcher in der Spritzwand zwischen Motor und Fahrgastraum verlegten Daimler-Ingenieure und -Techniker in sechs Wochen mühsamer Arbeit Kilometer von Kabeln quer durch den Innenraum zum Kofferraum der Prototypen, wo leistungsfähige Computer die Daten von 400 Temperatur- und Drucksensoren verarbeiteten, die sie bei harten Erprobungsfahrten auf der ganzen Welt sammeln.
Über 340.000 Kilometer haben alleine die Vorserienmodelle der aktuellen E-Klasse-Baureihe W 213 mit Ballastanhängern abgespult, ein Martyrium für Mensch und vor allem für das Material. Doch dazu später mehr.
Ganz am Anfang, in der sogenannten Strategiephase, rund sieben Jahre bevor das Auto auf den Markt kommt, steht die Frage, ob und wie viel der zukünftige Mercedes ziehen darf. Die Entscheidung fällt aufgrund folgender Faktoren: Zunächst wird die Fahrzeugklasse definiert, wobei zwischen Personenwagen (Klasse M1) und Geländewagen/SUV (Klasse M1G, Definition im Info-Kasten auf Seite 46) unterschieden wird. Die Anhängelast von Fahrzeugen der Klasse M1 darf maximal so hoch sein wie ihre zulässige Gesamtmasse. M1G-Autos dürfen das 1,5-Fache ihrer zulässigen Gesamtmasse ziehen, jedoch höchstens 3,5 Tonnen.
Mercedes Zugfahrzeuge: Zulässige Gesamtmasse wird vom Vorstand abgesegnet
Die zulässige Gesamtmasse ist ein politischer Faktor, der, lange bevor ein Wagen zum ersten Mal rollt, festgelegt und sogar vom Vorstand abgesegnet wird. Denn: Je höher die zulässige Gesamtmasse ist, desto stabiler und damit schwerer und teurer müssen Fahrwerksbauteile, Räder und Reifen sein, erläutert Ingenieur Olaf Rindfleisch, verantwortlich für die Gewichtsbilanzen der Baureihen E- und S-Klasse. Auf der anderen Seite beansprucht Mercedes-Benz für sich, im Wettbewerbsumfeld die höchsten Anhängelasten der jeweiligen Fahrzeuggattung zu haben. Mit Blick auf die aktuelle E-Klasse heißt das: 2,1 Tonnen für fast alle Motoren und Getriebe. Bei Audi A6 und BMW 5er ist bei zwei Tonnen Sense. Abstriche müssen nur die künftigen Käufer des E 200 T-Modells mit Handschaltgetriebe machen, der nur 1900 Kilogramm ziehen darf. Die Gründe für die Reduzierung der Anhängelast sind vielfältig. Entweder ist es der bei den obligatorischen Belastungstests, darunter zehnmaliges Anfahren an zehnprozentigen Steigungen, nicht mehr gewährleistete Kraftschluss der Kupplung, fehlende Motorleistung oder das subjektive Fahrgefühl, das ein Wagen mit Anhänger hinterlässt.
Für Mercedes gilt: Fährt sich ein Modell mit der ursprünglich avisierten Anhängelast nicht souverän, wird rigoros reduziert – selbst wenn die Technik mitmacht. Auch sind Basismodelle mitunter kleiner und damit weniger tragfähig bereift, was die Reduzierung der zulässigen Gesamtmasse und folglich auch der Anhängelast bedingt. Natürlich spielen bei der Festlegung der Anhängelast auch Kundenwünsche eine Rolle. Darum stehen die Entwicklungsabteilungen im ständigen Austausch mit der Vertriebsorganisation des Konzerns. „Bei Autos wie dem GLE, dem Nachfolger der M-Klasse, sind 3,5 Tonnen Anhängelast einfach gesetzt“, kommentiert Petra Franzen, die in der Entwicklungsabteilung für die SUV-Baureihen von Mercedes-Benz an den Lastenheften mitarbeitet.
Sind die Rahmenbedingungen in puncto Gesamtmasse und Anhängelast für den neuen Mercedes festgelegt, kommen schon beim „Packaging“, so wird das technische Design mittels CAD genannt, die Anhängekupplungs-Spezialisten ins Spiel. Sie entscheiden, welche Art von Anhängekupplung das Fahrzeug bekommt, definieren, wie viel Bauraum sie braucht, und die elektrische Anbindung. Für aktuelle Mercedes kommen nur mehr vollelektrisch ausschwenkende Kugelstangen infrage, betont Kai-Joachim Grebe, der als Ingenieur mit seinem Team die Anhängevorrichtungen verantwortet. Sie erlauben im Gegensatz zu von Bowdenzügen ausgelösten mechanischen Systemen, einen oder mehrere Betätigungstaster auch an weit von der Anhängevorrichtung entfernten Stellen anzubringen. Die Mercedes-Anhängevorrichtungen selbst werden in Zusammenarbeit mit externen Partnern entwickelt und müssen ähnliche Torturen überstehen wie das gesamte Fahrzeug. Dazu gehören Nässe-, Schmutz- und Steinschlagtests für den Faltenbalg rund um den Schwenkmotor genauso wie Kälte- und Hitzeprüfungen. Nicht zu vergessen die Prüfläufe auf dem Pulser, bei denen das Konstrukt und die Rohkarosse ihre Haltbarkeit unter ständigen dreidimensionalen Krafteinwirkungen beweisen müssen.
D-Wert gibt Auskunft über Kraft der Anhängerkupplung
Bei der Auslegung der Anhängekupplung gibt das stärkste und schwerste Modell der zu entwickelnden Baureihe den Ton an. Denn aus Fahrzeuggesamtgewicht, Anhängelast und Erdanziehungskraft errechnet sich nach der rechts stehenden Formel der D-Wert in Kilonewton, der Auskunft darüber gibt, welche Kräfte die Anhängevorrichtung aushält.
Der D-Wert muss immer höher sein als die Anhängelast. Die Stützlast beträgt übrigens vier Prozent der zulässigen Gesamtmasse eines Mercedes-Fahrzeugs. Bei der neuen E-Klasse ergeben sich aus 2,1 Tonnen zulässiger Gesamtmasse exakt 84 Kilogramm Stützlast. Kai-Joachim Grebe weist bei dieser Gelegenheit auf eine weitere Besonderheit der E-Klasse-Anhängevorrichtung hin: Unterhalb der Kupplungskugel ragen links und rechts zwei Bolzen aus dem Kugelhals. Sie dienen als Widerlager für einen patentierten Fahrradträger, der demnächst präsentiert wird. "Bisher wurden Kupplungsfahrradträger am Kugelkopf festgeklemmt. Die 29 Millimeter dünne Stelle unterhalb der Kupplungskugel verträgt aber nur ein begrenztes Moment, das die Beladungskapazität bisher beschränkte. Zukünftig stützt sich der Träger auf den Bolzen ab, wodurch Fahrräder und Träger zusammen 100 Kilogramm schwer sein dürfen", so Grebe. Sie sind die Basis dafür, warum die Kugelstange mehr Ladung als Stützlast verträgt. Grebe erklärt: "Beim Beladen der Kupplungskugel mit Fahrrädern treten physikalische Momente auf, die Stützlast ist eine Kraft." Außerdem ist der Biketräger mit Bolzenabstützung immer exakt ausgerichtet. Ein Jahr lang hat Mercedes diese Technik exklusiv.
Was kaum jemand weiß: Bei werksseitig eingebauter Anhängevorrichtung kommen nicht nur größere Kühler oder Lüfter, sondern je nach Fahrzeugtyp sogar verstärkte Differenziale und Antriebswellen zum Einsatz. Zusätzlich werden bei mit Anhängervorrichtung bestellten Fahrzeugen bereits im Rohbau Verstärkungen im Heckbereich eingebracht. "Unsere Autos müssen über ihre gesamte Lebensdauer mit der maximalen Anhängelast zurechtkommen", betont Ingenieurin Franzen. Was im Umkehrschluss natürlich bedeutet, dass Fahrzeuge mit nachgerüsteten Anhängevorrichtungen zumindest bei hohen Anhängelasten größerem Verschleiß ausgesetzt sind. "Es könnte auch passieren", so die Entwicklerin, "dass ein nachgerüsteter Wagen an Bergstrecken in den Überkochschutz geht. Dabei wird die Motorleistung so weit zurückgenommen, dass die Kühlmitteltemperatur wieder auf ein unproblematisches Maß zurückgeht. Bei einer Werkskupplung passiert das nicht."
Damit das so ist, spielt das Temperaturmanagement von Motor, Getriebe, Schmier- und Kühlflüssigkeiten sowie von Elektronik eine zentrale Rolle bei der Zugwagenentwicklung. Denn Anhänger ziehen bedeutet hohe Motorlast bei niedrigen Geschwindigkeiten und folglich hohe Temperaturen.
Digitale Absicherung/Berechnung
Schon am ersten Computermodell, das rund drei Jahre vor dem ersten rollenden Prototyp entsteht, können die Ingenieure rund um die Kühlungsexperten Manfred Jetter und Sebastian Schäfer und den Gesamtfahrzeugentwickler Christoph Wagner die Kühlluftzu- und Wärmeabfuhr berechnen. Die Experten sprechen hier von der digitalen Absicherung. Eine besondere Herausforderung für die Ingenieure ist die stetig verbesserte Aerodynamik moderner Fahrzeuge, die immer kleinere Kühllufteintrittsöffnungen voraussetzt.
Digitale Messstellenpositionierung
Mithilfe der darauf basierenden 3D-Computeranimation legen die Ingenieure kurz darauf Stellen für die Platzierung der eingangs erwähnten Infrarot-Druck- und Temperatursensoren fest, um möglichst viele neuralgische Stellen zu treffen. Dabei haben sie sogar Details wie das Anlasserkabel im unbestechlichen Blick des Computers. Elektronikbauteile werden im Vorhinein so weit davon entfernt wie möglich positioniert.
Absicherung Prüfstand
Einige mit 300 Kilogramm Messequipment ausstaffierte Erprobungsfahrzeuge treten zu ersten Testläufen auf dem Rollenprüfstand an, in dem Temperaturen von –20 bis +40 Grad Celsius eingestellt werden können. Dabei sind die Autos an den Radnaben befestigt (Nabenfesslung). Wirbelstrombremsen in den Rollen simulieren hierbei auch Belastungen, wie sie für den Anhängerbetrieb typisch sind. Trotzdem führt an der finalen Absicherung im Fahrbetrieb kein Weg vorbei.
Besonders hart nimmt das Kühlungsteam die Probanden heran. Konstant 30 Grad Celsius Außentemperatur müssen es sein, damit die thermischen Grenzen ausgelotet werden können. Ideale Bedingungen finden die Testmannschaften am Mont Ventoux, dem magischen Berg in der Provence, sowie auf dem berühmten Autotestgelände Nardo in Süditalien vor. Aber auch Südafrika steht immer wieder auf dem Reiseplan der Autotester.
Absicherung Prüfgelände/Finale Straßenfreigabe
Die öffentliche Straße klettert von Norden her mit durchschnittlich zehn Prozent Steigung dem Gipfel des 1912 Meter hohen Mont Ventoux entgegen. Auch das sind annähernd perfekte Faktoren für die Fahrtests. Diese bestehen aus Bergfahrten mit ausgereizter Zuladung und maximaler Anhängelast. Im ersten Gang geht es mit gleichmäßig 35 km/h bei circa 2000 bis 2500 Umdrehungen pro Minute bergan. Im zweiten Gang ackern die getarnten Prototypen mit rund 40 Stundenkilometern. Dabei darf zu keiner Zeit Wasser aus dem strapazierten Kühlkreislauf austreten. Auch die Drücke und die Temperaturen in Motor und Getriebe müssen immer innerhalb des definierten Fensters bleiben. "Zu hohe Temperaturen werden vor allem für die Motorlager zum Problem", erklärt Experte Manfred Jetter, "weil ihre Schmierung dann nicht mehr gewährleistet ist."
Noch härter wird es bei der sogenannten kundenmäßigen Bergfahrt. Bei den Tests werden die Gespanne mehrfach mit Vollgas von 40 auf 80 km/h beschleunigt. Nach dem letzten Versuch fahren die Tester an den Straßenrand, stellen augenblicklich den Motor ab und bauen einen Paravent um den Vorderwagen. Bei diesem sogenannten Nachheiztest messen die Sensoren noch höhere Temperaturen als beim Fahren. Anhand der Messdaten legen die Techniker die Nachlaufzeiten der elektrischen Wasserpumpe und des Motorlüfters fest.
Im italienischen Nardo haben die Entwickler Zugriff auf das Innenfeld des berühmten Hochgeschwindigkeits-Ovals, in dem diverse Bergteststrecken angelegt sind. Sogar auf der Ebene können die Versuchsingenieure mittels von Wirbelstrom gebremster Anhänger strapaziöse Bergfahrten bei hohen Außentemperaturen simulieren. Beim fertigen Auto fließen die Erfahrungen auch in die Programmierung der Automatikgetriebe ein. So kann es vorkommen, dass die Sieben- und Neungang-Getriebe am Berg einen Gang länger halten als eigentlich notwendig, weil sich der Temperaturhaushalt bei bestimmten, etwas höheren Drehzahlen besser regulieren lässt.
Ein Trugschluss ist die Annahme, dass besonders starke Motoren mit großem Hubraum thermisch besonders anspruchsvoll sind. Das Gegenteil ist der Fall, korrigiert Kühlungsingenieur Sebastian Schäfer. "Starke Motoren müssen für dieselbe Zugaufgabe einen geringeren Teil ihrer Spitzenleistung abrufen. Kleine Motoren laufen eher im Volllastbereich." Und Dieselmotoren sind thermisch anspruchsvoller als Benzinmotoren, wie das Schaubild oben links verdeutlicht.
Erst wenn sich bei den Extremtests keine Auffälligkeiten ergeben, gehen die Prototypen in die finale Straßenfreigabe, eine Dauererprobung, die im Acht-Stunden-Dreischichtbetrieb auf topografisch anspruchsvollen Straßen auf der Schwäbischen Alb durchgeführt wird. Die Strecken sind kurvenreich, teils schlecht asphaltiert und haben einen ständigen Wechsel aus bis zu 15-prozentigen Bergauf- und Bergabpassagen. Im Schlepp haben die beladenen Wagen ein- und zweiachsige Spezial- anhänger von Jotha, die über Scheibenbremsen verfügen, um die Dauerläufe möglichst verschleißarm zu überstehen. 342 Kilometer pro Schicht legen die Fahrer mit den Gespannen zurück. Und zwar so lange, bis 25.000 Kilometer im Dauerlauf abgespult sind.
Erprobungsschwerpunkte sind die Dauerhaltbarkeit des Triebstranges, der aus Getriebe, Kupplung, Kardanwelle, Antriebswellen, Differenzial- und, nur bei SUVs vorhanden, Verteilergetrieben besteht, und die Anbindung der Fahrwerksteile, der Aggregate und der Anhängevorrichtung an die Karosserie.
So rückt der Entwicklungsaufwand, der hinter einem Mercedes-Zugfahrzeug steckt, auch den hohen Preis für die Anhängekupplung ins rechte Licht. Was sind schon tausend Euro für das Gefühl, sich auf sein Auto verlassen zu können?
Was ist ein "Geländewagen" M1G?
Die offizielle Beschreibung der Fahrzeugklasse M1G lautet: Geländegängige Fahrzeuge zur Personenbeförderung mit höchstens acht Sitzplätzen außer dem Fahrersitz.
Autos des Klasse M1G, landläufig Geländewagen oder SUV genannt, müssen mindestens folgende Ausstattungen und technische Daten nachweisen: Eine Vorderachse und eine Hinterachse, die gleichzeitig oder getrennt angetrieben werden können (Allradantrieb), mindestens eine Differenzialsperre oder eine Einrichtung, die ähnliche Wirkung gewährleistet. Als Einzelfahrzeug ohne Anhänger müssen sie eine Steigung von 30 % überwinden können, oder dieses muss durch eine Berechnung nachweislich sein. Außerdem müssen mindestens fünf von folgenden sechs Voraussetzungen erfüllt sein:
Überhangwinkel hinten mind. 20°
Rampenwinkel mind. 20°
Überhangwinkel vorne mind. 25°
Bodenfreiheit vorne: 180 mm
Bodenfreiheit hinten: 180 mm
Bodenfreiheit zwischen den Achsen: 200 mm
Es genügt, wenn diese Werte durch ein höhenverstellbares (Luftfeder-)Fahrwerk erreicht werden, selbst dann wenn es ab 60 km/h automatisch wieder in eine tiefere Position fährt. M1G-Fahrzeuge dürfen das 1,5-Fache ihres zulässigen Gesamtgewichts ziehen, jedoch maximal 3,5 Tonnen.